Anna Maria Catharina Haarmeyer - Lebensbild einer Pionierin

Autorin:  Marlene Sprute

Am 9. Juni 1835 verließ eine siebenköpfige Familie das damals zum Königreich Hannover gehörende Dorf Alfhausen, um eine Reise in ein neues Leben in Nordamerika anzutreten.

Dieses Datum fand sich in Bleistiftnotizen, die Pfarrer Dr. Josef Mähler im Kirchenbuch seiner Gemeinde den Eintragungen seiner ehemaligen Täuflinge hinzugefügt hatte. Auch wenn es hier in den Jahren zuvor schon einige Auswanderungen gegeben hatte, so gehörte doch diese Familie zu denjenigen, die recht früh, als eine der ersten in Alfhausen, zu einer Entscheidung gekommen war, von der zu diesem Zeitpunkt ganz sicher noch niemand ahnte, wie viele dem von ihnen eingeschlagenen Weg noch folgen sollten.

Was mag einen solchen Schritt beeinflusst haben? Und warum hat gerade diese Familie sich zum Aufbruch entschlossen?

Der Lebensweg der Anna Maria Catharina Haarmeyer streift zum einen viele der Hintergrundthemen, in deren Zusammenhang sich viele Menschen zum Verlassen der angestammten Heimat gezwungen sahen. Gleichzeitig aber zeigt er das Bild einer außergewöhnlichen, starken und bewundernswerten Frau.

Das alte Haus Haarmeyer in der Reihe der Kirchhöfer in Alfhausen

Catharina wurde im Jahre 1791 als siebtes von insgesamt elf Kindern der Kaufmannsfamilie Haarmeyer in Alfhausen in einem der kleinen Häuser geboren, die noch heute, liebevoll restauriert, in der unmittelbaren Nähe der Kirche zu finden sind. Eine Inschrift weist ihre Eltern als Bauherren für das Jahr 1787 aus. Kirchhöfer wurde diese Gruppe von Wohneigentümern genannt, die unter den Eingesessenen des Dorfes zu jener Zeit einen ganz eigenen Status hatte. In Alfhausen finden wir sie, wie in einigen anderen Dörfern der Umgebung, als Ansammlung kleiner, dicht aneinander gedrängte Häuser ohne Hof und Garten. Sie waren aus Speichern entstanden, die einst von zumeist adeligen Familien des Ortes im Schutze der Kirchenburg erbaut worden waren.

Es war nicht leicht, im Grunde fast unmöglich, in den alten Zeiten ein Haus oder ein Grundstück in einem Dorf wie Alfhausen zu pachten oder gar zu kaufen, denn die großen Höfe unterstanden noch alle der Eigenbehörigkeit an eine adelige oder kirchliche Grundherrschaft, die eine Zerstückelung der Ländereien grundsätzlich nicht zuließ. Demgegenüber waren die meisten freien Köttereien so klein, dass ihr Grundbesitz notwendig für den eigenen Unterhalt gebraucht wurde und der mögliche Wohnraum bis in das allerletzte Eckchen mit Familienangehörigen mehrerer Generationen gefüllt war. Am ehesten ließ sich ein kleines Nebengewerbe oder bäuerliches Handwerk neben der Landwirtschaft betreiben. Aber dafür gab es in der eigenen Familie schon genügend Anwärter.
Hinzu kam, dass alle Eingesessenen des Dorfes ihrer Hofklasse entsprechende Rechte an den gemeinsam genutzten Wäldern, Weiden und Wiesen, an der "gemeinen Mark", hatten. Auch die Markgenossen hatten wenig Interesse daran, ihre Anteile weiter aufzusplittern. In der Regel blieb für alle aus dem Dorf, die nicht durch Erbe oder "Ein"-Heirat Grundeigentümer werden konnten, das Schicksal der unverheirateten Magd oder des Knechtes oder, nach einer Heirat, das Heuerlingsleben, zugehörig zu einem Hof. Zugezogene von auswärts hatten letztlich kaum eine Chance, sich anzusiedeln, am ehesten mit Glück, am besten in Verbindung mit Bargeld, das zur damaligen Zeit äußerst knapp und entsprechend begehrt war.

TüötteDie Familie Haarmeyer stammte ursprünglich aus Recke (etwa 30 km westlich von Alfhausen). Auch dort hatten sich die Menschen aus der ländlichen Bevölkerung, möglicherweise schon zu einem besonders frühen Zeitpunkt, mit der intensiven nebenerwerblichen Herstellung von Leinen beschäftigt. Schon bald nach dem Ende des 30jährigen Krieges, begünstigt durch eine wirtschaftliche Blütezeit in den Niederlanden, hatten die Männer aus etlichen Familien der Region Mettingen, Hopsten, Recke damit begonnen, als wandernde Händler mit der Kiepe auf dem Rücken ihr im Ort erzeugtes Leinen selbst zu vertreiben und sich damit untereinander organisiert. Die räumliche Nähe zu den Niederlanden erlaubte eine günstige Ausweitung, und schließlich war das komplexe Handelssystem der so genannten „Tüötten" mit eigenen Handelswegen im gesamten nordwestlichen Raum und darüber hinaus entstanden. Die Idee also, tatkräftig in der Fremde einen Ausweg aus wirtschaftlicher Not zu suchen, war in dieser Tüöttenfamilie Haarmeyer ganz und gar nicht neu.

Der Niedergang des Tüöttenwesens hatte schon am Anfang des Jahrhunderts mit veränderten politischen Voraussetzungen in der napolionischen Zeit und mit dem raschen Fortschritt der maschinellen Textilindustrie, vor allem in England, begonnen. Viele Tüötten strebten nun danach, sich als Händler und Kaufleute in den Ortschaften selbst niederzulassen. Bedingung dafür aber war natürlich ein Haus… und sei es noch so klein. In dieser Hinsicht stellten die kleinen Kirchhofshäuser eine der ganz wenigen Chancen dar, innerhalb des fest gefügten Rahmens der dörflichen Gemeinschaft überhaupt erst einmal einen Platz zu finden, auf dem man mit Handwerk oder Handel eine eigenständige Existenz gründen konnte.

Im ganzen Hochstift Osnabrück hatte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung stattgefunden, der nicht zuletzt mit einer starken Belebung der Leinenherstellung in Verbindung stand. In Alfhausen war man mit der Herstellung des so genanntem "Löwendlinnens" ganz besonders rege tätig. Es gab zwischen 1774 und 1804 sogar eine eigene Legge, von wo aus das Leinen geprüft, vermessen und mit einem Gütesiegel versehen weiterverkauft wurde. Die Kaufleute Hermann Henrich und sein Bruder Johann Gerhard Haarmeyer haben sich ganz offenbar im Zusammenhang mit dem Leinengewerbe in Alfhausen aufgehalten. Die Verheiratung mit einer Alfhausenerin, Anna Maria Revermann, scheint Hermann Henrichs Wunsch, sich endgültig in Alfhausen niederzulassen, besiegelt zu haben. Bezogen auf den Bruder sind keine Heiratseintragungen oder Taufdaten von Kindern verzeichnet, doch auch er starb in Alfhausen. Vielleicht wäre er gern, wie es bei den Tüötten üblich war, im Alter in seine Heimat Recke zurückgekehrt, doch er starb bereits 59jährig.

Möglicherweise war es schon der schwere Dorfbrand von 1755, dem neben mehreren Häusern in der Dorfmitte auch vier der Kirchhofsspeicher zum Opfer gefallen waren, der dafür gesorgt hatte, dass auf dem Grundstück des ehemaligen Kirchenspeichers überhaupt ein neues Wohnhaus gebaut werden durfte. Vielleicht hatte die Kaufmannsfamilie mit den inzwischen vier ältesten Kindern zuvor ja auch schon in einem alten Speichergebäude am selben Ort gelebt oder aber der neue, verbesserte Status des Familienoberhaupts hatte zu einer Begünstigung geführt. Hermann Henrich Haarmeyer war neben dem Vogt Schwicker und dem Gastwirt Ferdinand Feltmann Mitglied des Munizipalrates der nach französischem Muster geprägten neuen Ortsverwaltung.
Wie auch immer, Hermann Heinrich hatte es trotz aller widrigen Hürden geschafft, in Alfhausen Fuß zu fassen. Zwei seiner Söhne konnten hier später als Kaufleute auch in der kommenden Generation weiter existieren, ein Sohn heiratete auf den Hof Vennedunker in der Dorfmitte ein und nahm den Namen des Hofes an. Nur zwei Kinder überlebten die kritischen Jahre der frühen Kindheit nicht. Vieles spricht dafür, dass Catharina auch die Idee, sich nicht nur durch ererbte Rechte, sondern durch Engagement und Einsatz eine Position im Leben zu erobern, aus ihrer Ursprungsfamilie mitgebracht hat.

Inschrift des Hauses von 1787Nur wenige Schritte von Catharinas Geburtshaus entfernt, frontal dem Kirchturm gegenüber, lag die Küsterei. Gerhard Joseph Batsche hatte sein Amt so, wie es üblich war, von seinem Vater übernommen. Und dieser wiederum hatte seine Position erhalten, als er die Tochter des vorherigen Küsters Zumdiek geheiratet hatte. Verwunderlich wäre es nicht, wenn auch er aus einer Küstersfamilie aus einem der Nachbarorte stammte. So, wie hier, verlief der übliche Weg in praktisch allen Bereichen des beruflichen Fortkommens, eine fest gefügte Tradition über Generationen.

Küster Batsche war erst vier Jahre verheiratet, als seine junge Frau verstarb. Genau ein Jahr zuvor hatte das junge Paar bereits einen drei Monate alten Sohn verloren. Der zweite Sohn starb gut zwei Monate nach seiner Mutter. Nicht einmal ein halbes Jahr alt ist er geworden. Nur eine Tochter blieb aus dieser Beziehung am Leben. Jedoch auch sie starb als Zwölfjährige.

Schon sechs Wochen nach dem Tod des kleinen Jungen heirateten Küster Batsche und Catharina Haarmeyer in Catharinas 20. Lebensjahr. Möglicherweise hatte Catharina schon in den schweren Wochen zuvor die Familie unterstützt. Es waren ja neben der kranken Frau noch der Säugling und ein dreijähriges Mädchen im Hause. Ohne eine Hausfrau, Mutter und auch ohne eine Hilfe im Dienst um die Kirche wird es gar nicht gegangen sein, denn auch die Eltern des Küsters waren nicht mehr am Leben. Für uns in der heutigen Zeit ist das allgegenwärtige Erleben des Todes in diesen Zeiten kaum zu begreifen. Die unausweichliche Nähe des Todes mit jeder Schwangerschaft für jede junge Frau, die hohe Wahrscheinlichkeit des Todes für jedes Kind, Catharina hat beides erlebt, in ihrer Ursprungsfamilie, in ihrer Nachbarschaft und in ihrem eigenen Leben.

Solche kostbar bestickten Häubchen wurden zu Catharinas Zeiten von den Frauen in Alfhausen getragenBequem und üppig wird das Leben nicht gewesen sein, das die Küsterei bot, doch immerhin gab es ein gutes Dach über dem Kopf. Ein Neubau war genau in dem gleichen Jahr erfolgt, in dem auch das Haarmeyer’sche Haus erbaut worden war. Dem Küster standen in der Gemeinde 3 Hektar Land zur eigenen Bewirtschaftung zur Verfügung. Darüber hinaus bezog er weitere Einkünfte aus den Abgaben der Eingesessenen des Dorfes. So standen ihm von den größeren, vollerbigen Höfen im Kirchspiel jeweils 1 Scheffel Roggen oder Hafer und 4 Garben zu. Von etlichen anderen Höfen erhielt er nach festgeschriebenem Recht zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr regelmäßig Naturalien, wie eine bestimmte Anzahl an Eiern oder einen halben Schweinskopf. Auch sein Dienst bei Taufen, Beerdigungen und Hochzeiten brachte einen gewissen Verdienst ein. Die Sitte allerdings, ganz häufig den Küster und seine Frau als Taufpaten und Trauzeugen zu berufen, hatte man zu dieser Zeit schon aufgegeben. Das noch für den Vorgänger regelmäßig als Entlohnung anfallende Tauf- oder Hochzeitsessen wäre auch zu Catharinas Zeiten ein sicher nicht zu verachtender Zuverdienst gewesen.

Wie dieses in ländlichen Gemeinden häufig der Fall war, kann es sein, dass es auch in Alfhausen zu den Aufgaben des Küsters gehört hat, den Schulmeister bei seiner Aufgabe zu unterstützten, eine weit über hundert Köpfe zählende Kinderschar zu unterrichten. Catharina, aus einer Familie stammend, in der Papier und Feder in regelmäßigem Gebrauch standen, verfügte vermutlich über einen etwas höheren Bildungsstand, als manch anderer im Dorf. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie sich hier im Rahmen ihrer Möglichkeiten interessiert und engagiert hätte, zumal das Thema Schule auch in späterer Zeit in ihrer Familie eine besondere Bedeutung gehabt zu haben scheint.

Im Inneren der Kirche – ein Gemälde von Franz HeckerInteressant war mit Sicherheit die Arbeit in der Kirche. Der junge Pastor Dr. Joseph Mähler war ein besonders engagierter Geistlicher, der sich durch vielfältige Aktivitäten, bezogen auf seine seelsorgerische Tätigkeit, auf die Versorgung und Verwaltung seiner Pfarrei, aber auch auf die Ausstattung der Kirche selbst hervorgetan hat. So erfolgten in seiner Amtszeit größere Instandsetzungsarbeiten und Reparaturen. Dazu heißt es: „Tatkräftige Unterstützung erhielt der Pfarrer durch seine Kapläne und von dem Küster G.J. Batsche, dem er z.B. 1824 aus der Kirchenkasse einen Betrag von einem Reichstaler und sieben Schillingen zahlte für die Toilette des Marienbildes", vielleicht eine aufwändigere Restaurierungsarbeit. Der Lohn entsprach immerhin im Vergleich in etwa dem, was ein Bauer mit dem Verkauf eines Kalbes erzielen konnte. An alledem wird Catharina ihren Anteil gehabt haben.

In den Jahren 1812, 1814 und 1818 brachte Catharina drei Mädchen zur Welt. Im Jahre 1821 folgte ein Sohn, Mathias Friederich. Taufpate war der Dorfschullehrer, Ludimagister Münnich. Dieser Sohn war das erste eigene Kind, das Catharina verloren hat. Gerade ein Jahr alt ist er geworden. Schon im nächsten Jahr folgte eine kleine Tochter, die nur ein halbes Jahr lang lebte. Das sechste gemeinsame Kind mit Küster Batsche schließlich, nochmals ein Mädchen, blieb am Leben. Das Unglück jedoch hatte nun in der Familie seinen Einzug gehalten.

Am 10. Juni 1826 starb Gerhard Joseph Batsche im Alter von 42 Jahren an einer Lungenentzündung. Nach 15 Jahren als Küstersfrau stand Catharina mit diesem Ereignis im Alter von 35 Jahren an einem Wendepunkt ihres Lebens. Sie hatte nicht nur ihren Ehemann und den Vater ihrer Kinder verloren, sondern mit ihm ihre existenzielle Grundlage, ihr Haus, ihre Arbeit, ihren Platz in der Gemeinde. Batsches Tochter aus erster Ehe wird im Alter von18 Jahren nicht mehr im Haushalt der Familie gelebt haben. Vermutlich war auch Catharinas Älteste mit fast 14 Jahren schon in einem Arbeitsverhältnis außer Haus und auch für die 12jährige oder sogar die 8jährige ist dieses nicht auszuschließen, wohl aber nicht sehr wahrscheinlich. Das jüngste Kind, ein einjähriges Mädchen war sicher bei ihr.

Eine Handwerksmeistersfrau hätte nach dem Tod ihres Mannes nicht nur die im persönlichen Besitz befindliche Werkstatt und das gemeinsame Haus weitergeführt, sondern sie hätte mit einer geeigneten Wiederverheiratung die besten Chancen gehabt, Meistertitel und Status an den von ihr gewählten Ehemann weitergeben können. Auch einer Bäuerin wäre selbst dann, wenn sie sich, wie üblich, in der Leibeigenschaft zu einer Grundherrschaft befand, durch eine selbst gewählte Wiederverheiratung selbstverständlich ihr Lebensrahmen erhalten geblieben. Beide hätten, falls es die Arbeitssituation erlaubte, sogar die Möglichkeit gehabt, als Witwen mit ihrer Familie allein weiterzuwirtschaften. Diese Perspektiven bestanden für Catharina ganz sicher nicht. Ein soziale Abstieg, ein Übergang in die Bevölkerungsgruppe der Armen und Hilfsbedürftigen wäre, zumindest ohne die Familie Haarmeyer im Hintergrund, programmiert gewesen.

Bereits seit der Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts hatte es in Alfhausen wegen des hohen Bedarfs eine öffentliche Armenpflege gegeben. Im Jahre 1831 befanden sich 178 (!) Not leidende Familien im Kirchspiel Alfhausen, die mit öffentlichen Mitteln mit Brotkorn versorgt werden mussten, um bis zur nächsten Ernte durchzukommen. Das waren 40 % aller Haushalte! Neben der konkreten Hilfe gegen den Hunger gab es noch etliche andere Maßnahmen zur Linderung der gröbsten Not. Dennoch lagen die Lebensbedingungen für viele Menschen unterhalb des Existenzminimums. Viele bedrückende Schilderungen von Zeitzeugen sind erhalten. Die Gemeinden unterhielten sogar so genannte Armenjäger, um umher vagabundisierende Arme aus dem Dorf fernzuhalten. Ein ganz dunkles, noch wenig aufgearbeitetes Kapitel stellt die Situation von in Not geratenen Kindern in jener Zeit dar. Die Bevölkerungszahlen waren von 2149 im Jahr 1772 auf 2602 im Jahre 1821 und 2839 im Jahre 1833 gestiegen. Die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen klaffte von Jahr zu Jahr weiter auseinander.

Die größte Gruppe der Landbevölkerung ohne eigenen Besitz stellten die Heuerleute dar. Schon lange war es nicht mehr möglich, der ständig steigenden Zahl der Familien einen eigenen Siedlungsraum in der Gemeinde zu ermöglichen und sie mit einer nochmaligen Teilung der Anteile an der zur Existenz notwendigen Nutzung der gemeinsamen Marken zu beteiligen. Eine Zerstückelung der Höfe bis hin zum wirtschaftlichen Kollaps durch immer neue Erbteilung, wie sie in manchen Regionen Deutschlands praktiziert wurde, war hier im Fürstbistum Osnabrück, sowie auch in den späteren politischen Verhältnissen nicht denkbar und von gesetzlicher Seite aus bis 1874 auch verboten.

Ein Heuerhaus in Alfhausen, gemalt von Elisabeth Sprute, geb. SchröringSo entstand beginnend etwa in der Zeit nach dem 30jährigen Krieg die Bevölkerungsschicht der Heuerleute. Sie lebten in bescheidenen Verhältnissen auf den Grundflächen der Höfe, zahlten dafür Pachtgelder und leisteten Mithilfe bei den Arbeiten des Bauern. Die Möglichkeit jedoch, daraus jemals einmal Eigentum und Unabhängigkeit zu erwirtschaften, bestand definitiv nicht. Mit zunehmender Zuspitzung der sozialen Verhältnisse durch verschiedene wirtschaftliche und politische Belastungen, durch die gleichzeitig mit der wachsenden Überbevölkerung steigenden Verarmung der Menschen, speziell aus dem Heuerlingsstand, kam es zu einer immer größer werdenden Schere zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen.

Friederich Schröring und Elisabeth Wübbolding hatten als "abgehende", das heißt nicht erbberechtigte Bauernkinder nach ihrer Heirat ein Heuerhaus des Bauern Wübbolding bezogen, Heuerlinge in der ersten Generation. Von dem Hof Wübbolding, einem Vollerbe, ist davon auszugehen, dass er einer der ältesten Höfe in Alfhausen gewesen ist. Seine Lage und auch der Name weist bereits auf einen sächsischen Ursprung hin. Friederich Schröring war der zweitgeborene, nicht erbberechtigte Sohn vom Halberbenhof Schröring. Das Paar scheint, möglicherweise ein Leben lang, nach der Anerkennung als Markkötter in der Gemeinde gestrebt zu haben. Obwohl es sicherlich Erfolg versprechende Gründe für eine Berechtigung gegeben haben wird, vermutlich durch den Besitz der Wohnstätte als Eigentum, erreichten sie ihr Ziel nicht oder nicht wirklich. Dieser Umstand scheint darum interessant, weil er einmal mehr die Aussichtslosigkeit eines Versuchs deutlich macht, sich aus der vorgegebenen gesellschaftlichen Position zu erheben. Ein gewisser Widerwille jedoch, sich bescheiden in die vorgegebenen Verhältnisse zu schicken, mag als gedankliches Erbe aus dieser Generation hervorgegangen sein.

Der ältere Sohn setzte, wie es üblich war, den Lebensweg des Vaters in Wübboldings Heuer fort, im Seelenzahlenregister von 1840 ist er sogar einmal als Markkötter Schröring eingetragen. Als die Bauernfamilie Wübbolding um 1850 ihren großen Vollerbenhof verkaufte und nach Amerika auswanderte, wechselte er die Heuerstelle und zog mit seiner Frau und vier Töchtern nach Priggenhagen auf eine Heuerlingsstelle. Als 52jähriger starb er dort an der Schwindsucht, wie so viele andere seines Standes.

HollandgängerDas alte Haus Haarmeyer in der Reihe der Kirchhöfer in AlfhausenFür den zweiten Sohn Heinrich waren nicht, wie für seinen Bruder, bereits die Weichen gestellt, sein Leben in einer kleinbäuerlichen Existenz zu fristen. Vielleicht strebte er auch gar nicht danach, frei und unabhängig wie er war. Auch wenn es mittlerweile nicht mehr so lukrativ war, wie in den Jahren und Jahrzehnten zuvor, in den Sommermonaten nach Holland zu wandern, um mit Grasmähen, Torf machen und anderen Saisonarbeiten Geld zu verdienen, so ist doch davon auszugehen, dass Heinrich hiermit sein Brot verdiente. Strebsame Wanderarbeiter zogen sogar noch weiter, gingen nach Dänemark, Schweden, Westpreußen, sogar nach Polen und Russland. Hierin bestand die einzige, wirkliche Chance zu etwas Geld zu kommen, wenn auch die Bedingungen mehr als hart waren. Von Heinrichs älterem Bruder ist eine Notiz erhalten, in der er als Unfallzeuge eine Aussage zu einem Vorfall in „Middiwolda/Gotland" machte. Auch er war, selbst als er schon verheiratet war, als „Dänemarker" fernab von zu Hause unterwegs. Sehr wahrscheinlich ist, dass auf diesen Reisen Geschichten über die ungeheuren Möglichkeiten in der Neue Welt ihre Runden machten und sie in den Köpfen gerade dieser Menschen auf einen besonders fruchtbaren Boden fielen.

Waren die kühnen Ideen ein Berührungspunkt, an dem Heinrich Schröring und die immerhin sieben Jahre ältere Küsterswitwe Catharina sich trafen? Die ideale Partie für die Gründung einer Heuerlingsfamilie stellten sie beide füreinander eher nicht dar. Catharina und Heinrich heirateten im November 1827 in Alfhausen.

Vermutlich kam die Familie zunächst in Heinrichs Elternhaus unter, der Bruder war noch unverheiratet. Im Jahre 1829 kam ein Mädchen zur Welt, das schon wenige Monate später starb. 1830 wurde Friedrich Wilhelm geboren, 1833 Johann Bernhard und schließlich im Jahre 1834 Johann Bernhard Heinrich. Zu diesem Zeitpunkt war Catharina bereits 43 Jahre alt, ein hohes Schwangerschaftsrisiko aus heutiger Sicht. Nun wurde es eng im Heuerhaus, ebenso eng, wie fast überall sonst. Im Januar 1833 hatte auch Bernhard, der erbberechtigte Sohn, geheiratet und schon bald war auch dort die erste Tochter zur Welt gekommen. Catharinas Schwiegermutter Maria Elisabeth geb. Wübbolding starb im Mai 1833, das Todesdatum des Schwiegervaters ist nicht bekannt.

Am 19. Juni 1835 verließ die Familie Schröring Alfhausen, um nach Amerika auszuwandern. Vereinzelt hatten schon einige junge Männer aus der Region den Sprung über den „großen Teich" gemacht, aber als Familiengemeinschaft war im Jahre 1832 erstmals eine Familie aus Alfhausen ausgewandert. Für 1833 gibt es keine Meldungen und im Sommer 1834 gingen nach den Aufzeichnungen im Kirchenbuch 2 Familien gemeinsam an einem Tag aus Alfhausen fort Im Jahre 1835 waren die Schrörings vermutlich im Juni die ersten in dieser Saison und damit die 4. Familie insgesamt. Es folgten im August noch zwei weitere Familien, die gemeinsam an einem Tag im August gingen. Die Zahl der auswandernden Einzelpersonen lag deutlich höher. Allein 36 ledige Männer und 5 ledige Frauen sollen in diesem Jahr 1835 ausgewandert sein, wobei die Zahlen nicht zuverlässig und übereinstimmend sind.

An dieser Stelle nun stellt sich noch einmal die Frage nach den Hintergrundmotiven, die die Familie in ihrem Entschluss beeinflusst haben mochten. Viele Aspekte konnten zusammengetragen werden.

Doch schließlich fand sich ein ganz wichtiger, ganz typischer und sehr gut nachvollziehbarer Grund: Es gab schon Menschen, die auf der anderen Seite des Ozeans auf die Familie warteten.

Die allererste Familie aus Alfhausen, die bereits im Jahre 1832 aus Alfhausen ausgewandert war, die Familie Wichmann mit drei Söhnen und einer Tochter im heranwachsenden Alter, war den Schrörings gut vertraut. Mattias Wichmann war ein Verwandter aus der Familie von Catharinas Mutter. Auch Wichmanns haben in Alfhausen in der Dorfmitte gelebt, möglicherweise sogar ebenso, wie die Schrörings, in Wübboldings Heuer. Vielleicht sind Heinrich und Mattias in nachbarschaftlicher Freundschaft gemeinsam auf Wanderschaft gegangen?

Wilhelmine Bernadine Elisabeth und Catharina Wilhelmina Batsche, zwei der Töchter aus Catharinas ersten Ehe waren bei der Auswanderung mit dabei. Zwei Töchter Anna Maria Sophia Theresia, 23 Jahre alt und Anna Maria Helena, 17 Jahre alt, ließ Catharina zurück. Über ihr Schicksal ist in den Kirchenbüchern in Alfhausen nichts verzeichnet. Wer weiß, vielleicht sind sie nach einer Heirat unter einem anderen Namen sogar auch irgendwann einmal in Amerika eingetroffen? Catharina war bei der Überfahrt 44 Jahre alt, ihr Mann war 36. Die ältere Tochter war 20, die jüngere 10, der älteste Sohn Friederich war fast 5 Jahre alt und der jüngere Bernard 3. Heinrich, der Jüngste war erst knapp 1 Jahr alt.

Über Diepholz, Bassum und Bremen ging die Anreise über 150 Kilometer nach Bremerhafen, vermutlich über die neue unter Napoleon angelegte und 1834 fertig gestellte Militärstraße. Diese Strecke bewältigten die Auswanderer mit Unterstützung von Agenten, die bereits im Vorfeld den Reisekontrakt mit ihnen geschlossen und die Anfahrt, sowie die Schiffspassage organisiert hatten. Die Kosten für die Reise waren nicht eben gering. So waren es, erst recht nicht in den frühen Jahren, die Ärmsten der Armen, die sich die Reise erlauben konnten, sondern diejenigen, die über eine gewisse Summe an Bargeld verfügten, die vielleicht schon lange darauf hin gearbeitet und gespart hatten. Die wenigen Habseligkeiten, die mitgenommen werden konnten, wurden auf Wagen transportiert. Bedürftige und Kinder wurden sicher gefahren, ansonsten aber ging es in Etappen zu Fuß. Auch im Hafen wird es Wartezeiten gegeben haben. Abfahrt und Fortkommen der Segelschiffe war witterungsabhängig. Nicht umsonst wird der Sommer als Reisezeit gewählt worden sein.

Bislang konnte weder der Name des Schiffes, noch ein Abfahrts- oder Ankunftseintrag ermittelt werden. Vermutlich werden die Kontrollen in der damaligen Zeit in irgendeiner Form untergegangen oder verloren gegangen sein, wie es gelegentlich vorkam. Eine straffe Organisation, wie zu späteren Zeiten, gab es in diesen Jahren noch nicht.

Die Bedingungen auf den Segelschiffen müssen zum Teil katastrophal gewesen sein. Aus Briefen weiß man von den Ängsten der Passagiere, wenn bei Stürmen das Wasser in riesigen Wellen über Bord schlug und das Zwischendeck mit all den Kisten und den Schlafgelegenheiten unter Wasser setzte. „Die meisten lagen zu beten", schrieb ein Auswanderer. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser wurde zwar gestellt, musste aber aus eigenen Beständen angereichert werden. Es war unsicher, wie lange die Reise dauerte, vielleicht zwei, vielleicht aber auch drei Monate. Die Passagiere waren wegen der Witterung oft tagelang gezwungen, in den dunklen überfüllten Räumen im Zwischendeck bleiben. Die hygienischen Verhältnisse waren völlig unzureichend, weil die Schiffe ursprünglich gar nicht für diesen Zweck, sondern eigentlich für den Warentransport gebaut und ausgestattet waren. Passagiere litten unter der Seekrankheit. Durchdringender Gestank und Ungeziefer machten das Leben schwer. Typhus, Cholera, Windpocken und andere Infektionskrankheiten grassierten. Viele Menschen, besonders Kinder, starben an Bord. Auch der jüngste Sohn der Schrörings starb, wenn nicht auf der Seereise selbst, so doch wohl unmittelbar danach. Von den 10 Kindern, die Catharina geboren hatte, war mit ihm das vierte gestorben.

Die meisten deutschen Einwanderer erreichten Amerika zu dieser Zeit über den Hafen von Baltimore. Doch auch in New York, in Philadelphia und in New Orleans kamen Schiffe aus Bremerhafen an. Von Baltimore aus hätten die Schrörings ihr vorläufiges Ziel Cincinnati auf dem Landweg erreicht. Denkbar wäre aber auch eine Ankunft in New Orleans. In Amerika gibt es eine vage mündliche Überlieferung, der zu Folge die Familie auf einem Floß über den Ohio Fluss angekommen sein solle. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Schrörings in Cincinnati nicht nur von ihren Verwandten, sondern von einem ganzen Kreis von Menschen aus der „plattdeutschen" Heimat freudig erwartet wurden. Viel-leicht war sogar schon für eine Unterkunft und eine Arbeitsmöglichkeit gesorgt.

Ein neuer Reichtum ist der Familie nicht in den Schoß gefallen. Noch 4 Jahre Arbeit brauchte es, bis sie sich, wohl zusammen mit anderen Familien aus der alten Heimat, ihre ersten beiden Parzellen Land kaufen konnte. Es lag etwa 150 km südwestlich von Cincinnati. Das Land war noch völlig unerschlossen, steinig, hügelig und galt nicht unbedingt als gutes Farmland. Es wird deutlich, wie falsch es ist, nach all den Kämpfen und Nöten vor und während der großen Reise nun zu glauben, die größte Mühsal sei mit der Ankunft vorüber gewesen. Nun begann noch einmal aufs Neue ein hartes Brot.

Die Familie muss mit ungeheuerem Einsatz daran gearbeitet haben, das Land zu roden und zu kultivieren. Anfangs haben wohl nur die Männer mehrmals in Arbeitsabschnitten von einigen Wochen am neuen Sieglungsland die notwendigsten gröbsten Vorarbeiten geleistet. Etliche Bäume wurden fußhoch abgeschlagen und man ackerte zunächst um die Stümpfe herum. Einige der Baumstämme fanden als Bauholz Verwendung. Ein Farmhaus und die Scheune wurden aus von Hand behauenen Balken errichtet. Einen Teil des Hauses nahm, wie es hier in dieser Zeit noch üblich war, ein "großer allgemeiner Lagerraum" ein, vielleicht eine Erinnerung an die Diele in der Alten Welt?

Grossvater Fred SchvoeringDas Leben in der neuen Gemeinde war noch lange, z. T. bis zu Beginn des 1.Weltkrieges, mit der deutschen Lebensweise verbunden. Man sprach deutsch, natürlich plattdeutsch. Die Kinder wurden auf Deutsch, teilweise in Eigenleistung, unterrichtet. Auch die Schrörings haben sich hierbei nachweislich sehr engagiert. Es gab deutsche Zeitungen. Totenbilder und Grabsteine wurden in Deutsch beschriftet.

Die aus Deutschland stammenden Siedler in der Region unterschieden sich, bedingt durch ihre Herkunft aus Nord- oder Süddeutschland noch einmal sehr voneinander, konnten sich zum Teil nicht einmal richtig untereinander verstehen. Von der Nachbarschaft um die Schrörings herum wurde noch lange wegen der plattdeutschen Sprache als den "Celestine-Dutsch", den Holländern aus Celestine, gesprochen.

Beide Schröring-Söhne heirateten Frauen aus der alten Heimat. Friederich heiratete Gesina Stümpel aus Bakum bei Vechta und Bernard heiratete Catharine Graman, geboren im Kirchspiel Alfhausen. Friederich und Gesina blieben auf der Farm. Bernard zog es bald nach Louisville (Kentucky), auf die andere Seite des Ohio. Catharina starb 1859 als 69jährige. Sie lebte noch über 24 Jahre in Amerika. Heinrich starb 10 Jahre später. Beide sind auf dem Friedhof in Jasper, Indiana, beerdigt.

Catharina und ihrer Mann Heinrich haben durch ihren mutigen Entschluss und ihre außerordentliche Tatkraft ihren Nachkommen eine Lebensgrundlage in Amerika geschaffen, die ihnen Perspektiven öffnete, die in Alfhausen undenkbar gewesen wären. Sie konnten noch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Kinder erleben und mit ihren zahlreichen Enkeln einer hoffnungsvollen Zukunft entgegenblicken. Der Sohn Friederich/Frederic, später allgemein "Grandpa Schroering" genannt, hinterließ bei seinem Tode 80 (!) Enkel und Urenkel und auch sein Bruder Bernard war mit einer großen Nachkommenschaft gesegnet.

Seit 1993 ist der Kontakt zwischen den Familien auf deutscher und amerikanischer Seite wieder hergestellt und wird unter anderem durch etliche Besuche und Gegenbesuche gepflegt. Im Jahre 1995 fand ein Familientreffen mit mehr als 200 Teilnehmern statt. Der Stammbaum des amerikanischen Familienzweigs ist inzwischen weitestgehend vollständig erstellt. Längst hat er internationale Dimensionen erreicht und umfasst heute schon mehr als tausend Einträge. Eine gemeinsame Website bietet vielfältige Möglichkeiten zu Austausch und Kontakt.